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Ross Chisholm
Last of the raking light
Ausstellung: 29. April - 30. Mai 2015

Eröffnung: 29. April 2015, 17 - 21 Uhr 

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Stellen Sie sich eine Szene vor: Joshua Reynolds steht vor einem der folgenden beiden Porträts: Miss Mary Hickey (1770) und Anne Seymour Damer (1773). Beide sind fast vollendet. Im Ersteren hat der englische Bildnismaler den rüschenverzierten weißen Hut seines Modells so geneigt, dass er die obere Hälfte der Leinwand nahezu dominiert, Hickeys eindringlicher Blick liegt im Schatten der Hutkrempe. Ein schlichter Halsschmuck in Form einer Schnur führt das Auge des Betrachters nach unten, zum Ausschnitt der jungen Dame und in die Fläche ihres schwarzen Kleides. In dem späteren der beiden Gemälde hat Reynolds Seymour Damer – eine Künstlerkollegin – dargestellt, als große, verschmitzte (dennoch aber ohne jeden Zweifel intelligente) Frau. Ein schmales ovales Gesicht, hochgestecktes Haar; eine schlanke Figur, deren roter offener Mantel lose auf ihren Schultern liegt; ein Ende der bestickten silbernen Schärpe, die ihr helles, cremefarbenes Kleid umgürtet, ist unter dem Mantel hervorgeschlüpft. In der Szene, die wir uns vorstellen und in der Reynolds an seiner Staffelei steht, ist der einer arkadischen Landschaft nachempfundene Hintergrund fast fertig.

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Stellen Sie sich bei einem jeden dieser imaginierten Bilder einen bestimmten Bruchteil einer Sekunde vor: Reynolds taucht seinen Pinsel in einen Becher mit Terpentin, säubert ihn durch kurzes Umrühren und hebt ihn wieder heraus. Die Flüssigkeit wird zu einem Wirbel, in dem sich die Farben auflösen, als sich Rot, Grau, Blau und weitere Farben vermischen, tanzen, sich hin und her wenden und schließlich miteinander verbinden. Es ist, als ob sich die ganzen Welten von Hickey und Seymour Damer vor unseren Augen aufgelöst haben. Die unterschiedlichen Farbtöne und einzelnen Pinselstriche – das Wesen ihrer Existenz – geraten durcheinander, die Formen werden abstrakt.

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Bei Ross Chisholms neuer Serie großformatiger Gemälde handelt es sich (zumindest in dem wesentlichen Moment, in dem dieser zeitgenössische Künstler vor seinen Leinwänden steht) um intuitive, gestische Kompositionen. Doch könnte man sie auch so verstehen, dass sie das trüb gewordene Terpentin dieses Bruchteils einer Sekunde aus dem 18. Jahrhundert einfangen. Ein Porträt des Zerfalls der Farbe; ein Porträt davon, wie ein Gemälde zerfällt. Chisholm beschwört den Geist Reynolds' herauf, er untersuchte die Palette dieses früheren Künstlers, suchte sich Reynolds' für ihre Unbeständigkeit bekannten Farbmischungen heraus (die zu signifikanten Beeinträchtigungen der Farben und zu Rissen auf der Oberfläche neigen, für die der Maler in Restauratorenkreisen berüchtigt ist), und schuf jedes Gemäldes selbst nach – als genaue gegenständliche Kopie und, durch seine eingehenden Forschungen – dieses Sich-Hineinversetzen in Reynolds –, als abstrakte Arbeiten. Ebenso wie eine genaue Untersuchung des Wasserglases eines Malers Hinweise auf die Werke geben mag, die dieser gerade schafft, kann der aufmerksame Betrachter von Chisholms neuen Arbeiten das Schwarz von Mary Hickeys Kleid in einer Folge von drei dicken Pinselstrichen in der rechten Ecke eines Gemäldes entdecken; das Rotbraun des Haars von Seymour Damer ist in der Lasur eines anderen. In einem dritten Bild ist in der Mitte eines Dickichts von Farbe die helle, cremige Hautfarbe Hickeys auszumachen; dort findet sich in Richtung oberer Bildrand das rosige Rot der Wangen von Seymour Damer. Ein kleiner grüner Bereich aus dem Hintergrund von deren Porträt beherrscht schließlich die letzte Arbeit.

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Die Szenen Reynolds' werden in diesen abstrakten Arbeiten in unkenntliche Fragmente zerlegt, doch in ihrem Wesen – in materieller Hinsicht – sind sie ebenso getreue Kopien wie die gegenständlich genauen Wiedergaben von Miss Mary Hickey und Anne Seymour Damer. Innerhalb dieser Spaltung bringen die neuen Arbeiten Chisholms unsere Vorstellungen von Darstellung auf effektive Weise ins Wanken, und generell gesehen versuchen sie sogar, einen Zusammenbruch von Zeit und Sinn nahezulegen – oder herbeizuführen.

Text von Oliver Basciano

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