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Wie das Ausspucken von Kirschkernen
von Martin Simons

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In der Erzählung Der Chinese des Schmerzes von Peter Handke heißt es vom Erzähler: Er ist die Schwelle. Betrachtet man die Bilder der Ausstellung History Boy, ist man unwillkürlich geneigt, diesen Gedanken auf den britischen Maler Tom Anholt zu übertragen. Seine Arbeiten handeln von einem möglichen Übergang. Das Starre, von vornherein Festgelegte, lehnt Anholt offensichtlich ab. Seine Bilder sind wie Zwischenräume oder Durchlässe. Sie balancieren auf der Schwelle vom Konkreten zum Abstrakten. Wer sie aufmerksam betrachtet, wird auf ihnen Spuren ihres Entstehens bemerken. Fast immer wurden sie noch und noch übermalt oder ihr Format wurde während des Arbeitsvorgangs durch das Ankleben von weiterer Leinwand erweitert. All diesen Werken ist damit eins zu eigen: Durch das Offenlegen des eigenen Entstehungsprozesses erzählen sie eine Geschichte: die Geschichte, History. 

Auf einer Ebene erzählt sie von Anholts eigener Familie. Sein Vater, in viele Sprachen übersetzter Autor und Illustrator von Kinderbüchern, hat familiäre Wurzeln im Persien des späten Mittelalters. Der erste bekannte Vorfahr der Anholts, Jacob Sjoesjan, führte seinen geschundenen jüdischen Familienstamm im 16. Jahrhundert durch Wüsten und über Berge nach Europa, auf ganz ähnlichen Wegen wie sie so viele Flüchtlinge heute nehmen. Er hat vermutlich nichts von materiellem Wert auf seiner Flucht retten können, aber was er mit nach Europa brachte, waren zweifellos bleibende Erinnerungen an die Formen und Farben seiner Heimat.

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Jahrhunderte später versucht Anholt, Spuren dieser Erinnerungen in seiner eigenen Psyche, dort wo sie ins kollektive Unbewusste reicht, nachzuspüren. Natürlich lässt er sich von tatsächlichen Bildern aus dem Orient inspirieren. Aber um historische Genauigkeit geht es ihm nicht. Er ist in seinen neuen Bildern darauf aus, eine kulturelle Schwelle in der eigenen Identität zu erkunden, herauszufinden, was tief in ihm verborgen ist und erst allmählich, durch geduldiges Arbeiten auf seiner Leinwand (oder bei den kleineren Formaten: auf der Holztafel) sichtbar wird – wenn er sich in die ferne Vergangenheit seiner Familie versenkt.

Was dabei zum Vorschein kommt, sind Bilder mit geheimnisvoll klingenden, dabei doch immer eine konkrete Geschichte evozierenden Titeln wie The Mushroom Collector, The Migration oder King's Rock. Orientalisch überbordende Bilder mit einer jeweils konkret erfassbaren Narration, die aber immer davor ist, durch das Gewimmel abstrakter Elemente in die reine Abstraktion umzukippen. Es gibt auf allen Bildern geheimnisvolle Bogen, die einen sonst unsichtbaren Energiefluss zu illustrieren scheinen oder es finden sich auf ihnen kleine leuchtende Punkte, die wie der Sternenstaub aus dem Märchen wirken. Diese Arbeiten sind in einem Zwischenreich zu verorten. Beim Betrachten fühlt man sich versetzt in einen Zustand wie kurz nach dem Erwachen, wenn das Bewusstsein wieder in die sogenannte wirkliche Wirklichkeit eintaucht und sich darin die anders wirklichen Traumbilder so unaufhaltsam auflösen, dass man wehmütig wird.

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Aber anders als solche Traumbilder, lösen sich Anholts Bilder nicht einfach auf. Sie haben Bestand und ermöglichen ein nur auf den ersten Blick unscheinbares, flüchtiges, tatsächlich aber ganz substanzielles Erlebnis. Es gleicht ein wenig dem Überschreiten einer jener kleiner Lebensschwellen, die Peter Handke in einem Halbsatz seiner Notizbücher so umschrieb: „Schwelle im Jahr: erstes Kirschkernausspucken (30. Mai, Brazzano)".

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