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Rémy Markowitsch
GLÜCKLICHE ZEITEN
Galerie EIGEN + ART Berlin
8. September - 8. Oktober2016

Berlin 2016 1

 

Geh, gehab Dich nicht so, Bruder Ameis,
Erbarme Dich der Grille!
Liegt die Schuld etwa an ihr,
Wenn sie den ganzen Sommer gesungen hat?

Muzaffer Tayyip Uslu

Bevor Schanghai zu der Stadt wurde, die sie heute ist, war sie von August bis November erfüllt vom Gesang der Grillen. In den verschachtelten Vierteln mit engen Strassen, kleinen Häusern, mit Feldern und Wiesen fanden sie reichlich Nahrung. «Die besten Grillen», so Hugh Raffles in seinem wunderbaren Buch Insektopädie, «kommen nicht aus kargen, sondern aus den fruchtbarsten Böden; ihre körperliche Kraft ist ein Ergebnis der frühen Ernährung.»1 In den letzten zwanzig Jahren jedoch, als in Schanghai Hochhäuser wie Pilze aus dem Boden schossen, verschwanden die Wiesen. Und damit auch die Grillen.

Seit Jahrhunderten gilt die Haltung von Grillen in China und Japan als stilvolles Hobby. Die singenden Haustiere wurden – und werden – in kleinen Bambuskäfigen, Kürbis-, Bakelit- oder Tongefässen gehalten. Besonders geeignete Grillen aber werden in Kämpfen aufeinander losgelassen. Kenner schwärmen dabei von den fünf Tugenden der Grillen: ihrem Mut und Durchhaltewillen, ihrer Vertrauenswürdigkeit, Besonnenheit und ihrer Demut, wenn sie verlieren. Grillen stehen also für traditionsreiche, moralische Grundwerte. Den Haltern liegen die Tiere dabei zutiefst am Herzen; sie sollen glücklich sein. «Das Training [der Grillen]», so Hugh Raffles, «besteht aus Ernährung, Hygiene, medizinischer Versorgung, Physiotherapie und Psychologie.»2

Grillenkämpfe sind in China ein Volkssport der Männer, und es geht um viel Geld. Zum einen treten männliche Grillen gegeneinander an. Zum anderen sind es meistens Männer, welche die Grillen mit besonderem Futter hegen und pflegen, auf sie Wetten abschliessen und im Publikum mitfiebern.

Zwar suchen bei Vollmond ganze Familien in den Wiesen nach geeigneten Tieren, und es gibt auch Frauen, welche sie verkaufen, doch letztlich ist der Grillenkampf ein männerverbindender Sport: Durch Grillen werden Menschen – oder eben Männer – zu Freunden. Inzwischen zwar etwas aus der Mode gekommen, strömen alljährlich im Herbst immer noch Tausende auf Schanghais und anderer Städte Märkte, um Grillen zu verkaufen und zu kaufen, und einzelne Grillen erzielen Preise bis zu umgerechnet 1'500 Euro. Da das Leben der Grillen kurz ist, sie erst nach der siebten Häutung reif für Fortpflanzung bzw. Sex und Turniere sind, müssen die Halter immer wieder neue Grillen kaufen oder, so es sie noch gibt, in Wiesen suchen.

Bei den eigentlichen Kämpfen steht oder sitzt das Publikum um kleine Arenen, runde Porzellangefässe etwa. Jedes Männchen muss in diesem engen Kreis ein zweites Männchen als Konkurrenz um Platz und mögliche Weibchen empfinden und also den Rivalen sofort vertreiben. Und so kommt die wirkliche Qualität einer Kampfgrille erst ans Licht, wenn sie sich in der Arena einem Gegner gegenübersieht. Um die Grillen zusätzlich aggressiv zu stimmen, führen ihnen die Halter vor dem Turnier Weibchen zu – Sex stimuliert die Kampfeslust – und reizen ihre Fühler mit Stäbchen, haarfeinen Pinseln, Grashalmen oder Katzenbarthaaren.

Im Gegensatz zu Hundekämpfen enden die Grillenkämpfe bis auf Ausnahmen nicht tödlich für den Verlierer, der sich nach geschlagener Schlacht zurückzieht und der – für weitere Wetten wertlos geworden – zuerst in einen Plastikeimer geworfen und dann in die Natur entlassen wird. Der Sieger indes beginnt nach dem Kampf laut zu zirpen. Es ist das Triumphlied des Stärkeren, der den Rivalen aus dem Feld geschlagen hat; sein Marktwert wird mit jedem weiteren Sieg höher.

Im 13. Jahrhundert verfasste der chinesische Minister Jia Sidao das legendäre «Buch der Grillen», das vermutlich das erste entomologische Buch überhaupt ist; noch heute beziehen sich chinesische Grillenkampfliebhaber auf dieses Werk. Die Grille ist allerdings auch in Europa ein Tier mit sehr alter Verbindung zum Menschen. Der griechische Dichter Aesop, der wahrscheinlich im 6. Jahrhundert vor Christus lebte, setzte ihr mit einer seiner Fabeln, Die Grille und die Ameise, ein einflussreiches Denkmal. Jean de La Fontaine (1621–1695) übernahm das Motiv für eine eigene Fabel; die Geschichte ist im Kern dieselbe: Das scheinbar lebenslustige Dasein der Grille, die im Hier und Jetzt zirpt und hemmungslos promiskuitiv liebt, ohne langfristige Folgen zu bedenken, wird als kurzsichtige Faulheit angeprangert und dem vorausschauenden, fleissigen Leben der Ameise gegenübergestellt, die sich Vorräte anlegt und dafür auf das freudige Sommerleben verzichtet. Zu Beginn des Winters jedoch treten nicht nur die Vorteile der Ameise zutage, sondern auch ihre Hartherzigkeit, Schadenfreude und Arroganz. Sie verweigert der Grille jegliche Unterstützung – selber schuld, wer keine Vorräte anhäuft! – und verschanzt sich hinter festen Türen, dichten Grenzen.

Rémy Markowitsch stellt nun in seiner Installation «Glückliche Zeiten» mit dem Gedicht des türkischen Dichters Muzaffer Tayyip Uslu (1922–1946) die Frage: Liegt die Schuld etwa an der Grille, wenn sie den ganzen Sommer gesungen hat? Es erscheint kompliziert, aber vielleicht ist es auch ganz einfach, denn der Mensch wiederholt die immer gleiche Geschichte in Variationen: den einen geht es gut, weil die anderen darben – das hat System.

Mit den chinesischen Grillenkämpfen greift Rémy Markowitsch eine traditionsreiche Mentalitätszelebrierung auf. Es sind Rituale zur nationalen Identitätsbildung, wie sie auch Schweizer Schwinger oder senegalesische Gris-Gris-Ringer bieten. Unterstützt von zahlreichen magischen Zeremonien (dem Gris-Gris), wollen beispielsweise auch die senegalesischen Ringer, die in grossen Stadien auftreten, ihre Gegner lediglich niederringen und vom Platz vertreiben. Dabei geht es ebenfalls um viel Geld: die Preissummen im Senegal sind mit rund 250'000 Euro hoch, die Sieger geniessen wie die Schweizer Schwinger und die besonders starken chinesischen Kampfgrillen Kultstatus. Schwingerkönige bekommen bei einem Sieg zwar nur einen Blumenkranz, Geschenke und einen «Muni», einen starken Bullen, der beim Verkauf durchaus einmal CHF 40'000 einbringen kann, und Wetten auf den möglichen Sieger sind nicht üblich. Aber die Schwingerkönige stellen selbst heute ein Männlichkeitsideal dar, gehören zur folkloristisch-nationalen Identitätsbildung. Wer die Kämpfe im Sägemehl-Rund auf einer Alp oder die ekstatische Stimmung während eines Ringkampfs in einem Stadion Dakars einmal erlebte, wird wissen, dass man sich nur schwer der Wirkung dieser archaischen Kraft entziehen kann. Wie in allen Ringkampfarten der Welt kommen sich da sogenannte ganze Männer nahe, eine physische Nähe, die sie sonst tunlichst vermeiden.

Und die männlichen Grillen? Während sich menschliche Ringer dem Kampf freiwillig stellen, werden die chinesischen Kampfgrillen zu den Turnieren gezwungen, was man selbstverständlich verabscheuen kann. Im Osten Chinas brechen für viele Menschen dann jedoch «Glückliche Zeiten» an, wenn die Saison der Grillenkämpfe beginnt, im August. Dann steigen immer noch Tausende in die Züge und reisen zu den Wettkämpfen, setzen und verlieren ihr Geld, geben sich ihrer Leidenschaft hin. Doch überall auf der Welt treten periodisch grössere Wanderbewegungen an bestimmte Orte wie Stadien, Märkte, Messehallen oder Museen auf und verhelfen den teilnehmenden Menschen zu «Glücklichen Zeiten».

Durch Rémy Markowitsch kommen die Grillen nun so zusammen wie in vielen seiner fotografischen Arbeiten: Indem er Seiten von Huo Guang Han's wissenschatlichem Buch Auswahl Erziehung und Kampf: 60 Jahre Erfahrungen mit Kampfgrillen3 durchleuchtet und das, was sich im Licht zeigt – die Überlagerung der Motive auf Vorder- und Rückseite – fotografiert. Das Buch zeigt die Fotografien siegreicher Grillen, die einzeln in einer Petrischale festgehalten wurden. Durch Markowitschs Durchleuchtungen mit dem Titel Wicked Cricket (2016) kommen nun zwanzig Grillenpaare zur Deckung, bilden in einer kunstvollen Konstellation eine skulpturale Form. Es ist eine nicht kämpferische Vorwegnahme – oder Nachkonstruktion? – des Grillenkampfs. Gleichzeitig ist das virile Grillen-Siegerzirpen zu erleben: Hinter jeder Fotografie ist auditive Technik verbaut, die Grillenzirpen erklingen lässt. Aus diversen chinesischen Youtube-Filmen von Wettkämpfen herausgefiltert und von sämtlichen störenden Geräuschen gereinigt, wird aus diesem reinen Grillengesang mittels digitaler Steuerung eine Komposition unterschiedlichster Soli, Duos, Trios und Chören – bis hin zum Tutti aller Grillen. Es ist der ergreifende Sound der leistungsstarken Männlichkeit, der nach frisch befriedigter Paarungslust und errungener Dominanz klingende Urlaut.

Die repetitive, ja hypnotisierende Grillen-Minimal-Music unterscheidet sich indessen je nach Grillenart und ist zudem für jedes Tier und jede Absicht charakteristisch: Verteidigung des Territoriums oder Liebeswerben, Aggressivität oder Bereitschaft zum Rückzug sind für die Tiere erkennbar. Von menschlichen Ohren gehört, führte der Sound im englischen Sprachraum jedenfalls zur phonetischen Umsetzung in die Worte «Katy did, Katy didn't» und verhalf der Laubheuschrecke zu ihrer Bezeichnung «katydid». Der Liebesakt als Kampfstimulans – Rémy Markowitsch nimmt das Ritual mit seiner aus dem Atlas of Chinese Katydid4 stammenden, in riesige Dimension vergrösserten Wandzeichnung Katy did (2016) auf.

Der Blick der Grillenhalter auf ihre kämpfenden Tiere ist ein Blick von oben auf ein überblickbares Geschehen, was in einer verwirrend unüberblickbaren Welt erholsam ist. Zu beschreiben, wie der Mensch mit Grillen umgeht und was sie ihm bedeuten, ist vor allem eine Beschreibung des Menschen selbst. Als Erinnerung an uns stellt Rémy Markowitsch zwei ineinander verkeilt kämpfende, nackte Schweizer Schwinger in eine Petrischale. Aus rosafarbenem Speckstein en miniture nachgebildet, lassen sie an einen Liebesakt denken oder an verletztliche Neugeborene, die umschlungen daliegen. Beleuchtet, ja fast durchleuchtet, stehen sie im Rampenlicht, und wir können sie aus gewissermassen kühlem Abstand betrachten.

Alle Kämpfer – auch die Grillenkämpfer – hoffen auf Sieg. Und wie alle Zuschauer zehren auch wir von der katharsischen Kraft eines Turniers, das gerade als Stellvertreterkampf seine reinigende Wirkung auf verdrängte Aggressionen, Konflikte, Spannungen – und auf Vereinigungssehnsüchte – besonders gut entfaltet. Zumindest zu Beginn eines Kampfs sind alle auf eine steigende Tendenz eingestellt, darauf den Sieg davonzutragen.

Text von Nadine Olonetzky
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Nadine Olonetzky, 1962 in Zürich geboren, schreibt u.a. für die NZZ am Sonntag zu Themen aus Fotografie, Kunst und Kulturgeschichte und ist Autorin sowie Herausgeberin mehrerer Bücher. Sie ist Mitglied von kontrast (www.kontrast.ch) und Projektleiterin/Lektorin im Verlag Scheidegger & Spiess. 

 

1 Hughes Raffles, Insektopädie, Naturkunden Nr. 7, Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2013,    S. 85.
2 Ebd., S. 84.
3 火光汉 (Huo Guang Han), 60 年经验谈-蟋蟀的选养斗 (Auswahl Erziehung und Kampf: 60 Jahre Erfahrungen mit Kampfgrillen), 上海人民出版社, Shanghai People's Publishing House, Schanghai 1999.
4 Jichuan Wu, Altas of Chinese Katydid, Beijing, 2001.

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