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Stella Hamberg
Jubiläum
Galerie EIGEN + ART Leipzig
6. September - 26. Oktober 2019

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Als Menschen mit sieben Sinnen innerhalb der drei Dimensionen unseres Körpers fühlen wir uns von anderen Körpern angezogen, unabhängig davon aus was sie bestehen, und ob sie sich bewegen oder nicht. Es gibt wunderbare psychologische und neurologische Argumente warum der Mensch von jeher Skulpturen, Zeichnungen und später Fotografien des menschlichen Körpers schuf. Das sind die prägenden Begriffe des Bewusstseins unserer Selbst, unserer heiligen, sich selbst Sinn stiftenden Körper und unserer ewigen Suche, seine Mechanismen zu verstehen, indem wir uns in anderen widerspiegeln und erkennen. Die Wahrnehmung eines Körpers findet auf vielen unterschiedlichen Ebenen statt  und beginnt mit einer Einschätzung des Maßstabs, des Volumens und des Materials. Dann folgt die andere Lesart: Ein Zusammenspiel all unserer Sinne, unseres Geistes, unseres Verstandes, unserer Erinnerung und unseres innersten Selbst. Die Seele liest. Für das Verständnis der unterschiedlichen Facetten von Identität, einschließlich unser eigenen, ist der menschliche Körper von zentraler Bedeutung. 

In seinem 2002 auf Deutsch erschienenen Werk Corpus erläutert der 1940 geborene Philosoph Jean-Luc Nancy 58 Indizien über den Körper (58 indices sur le corps). Zum 41. Indiz schreibt er: „Der Körper bewahrt sein Geheimnis, dieses Nichts, diesen Geist, der nicht in ihm eingesperrt ist, sondern nach außen drängt, sich überall in ihm ausdehnt; er bewahrt dieses Geheimnis so sehr, dass es sich nicht verbergen kann, in keinem intimen Winkel, wo es eines Tages aufgedeckt werden könnte. Der Körper beherbergt nichts: Er selbst ist das Geheimnis. Deshalb stirbt der Körper und wird weggetragen, im Grab verborgen. Von seinem Übergang bleiben nur wenige Indizien erhalten.“

Die dynamischen Skulpturen von Stella Hamberg haben eine eigene Sprache, sie existieren in einer eigenen Welt, die mit unserer zusammenstößt. So unterschiedlich sie in ihrem einnehmenden Charakter sind, sie teilen sowohl einzeln als auch als Gruppe ein Geheimnis. Es ist als hätten sie sich zusammengeschlossen, um uns zu bannen oder mit einem Zauber zu belegen, um uns ein wenig zu erhöhen, während sie uns subtil zu den einzelnen Arbeiten führen. Unsere Sicht wird geweitet. Unsere sich bewegenden Körper betrachten die modellierten und fragmentierten Körper. Unser Bewusstsein springt zwischen unseren sich bewegenden Körpern und der dichten stillen Reglosigkeit der Skulpturen wie in einem Ping-Pong Spiel in Zeitlupe. Die Objekte haben eine starke Präsenz. Wir berühren sie mit den Augen, wir beobachten unsere eigenen Körper, wie sie eine Darstellung oder Symbolisierung von Körpern betrachten und das hat etwas magisches zur Folge, unser Sinn Teil der Menschheit zu sein, steigert sich während wir uns  gleichzeitig von unseren eigenen Körpern entfremden.

Vor 15 Jahren hatte Stella Hamberg ihre erste Ausstellung in der Galerie EIGEN + ART in Leipzig, vor mittlerweile 25 Jahren begann ihre Laufbahn als Bildhauerin. Die Ausstellung  „Jubiläum“ erhielt ihren Titel  aus dem alt-hebräischen Wort Yovel. Wie mir Stella Hamberg sagte, wird Yovel oder Jubiläum im Buch Leviticus des Alten Testaments als Sabbat der Sabbatjahre bezeichnet. Es soll ein Jahr sein, in dem Schulden erlassen werden, Sklaven befreit werden, das Shofar (das Horn eines Widders oder Kudus) der Befreiung erklingt und eine radikale Landreform denen, die ihr Land oder ihr Zu Hause verloren haben, einen Neuanfang ermöglicht. Jedem soll ein zu Hause garantiert werden. Dieses Jahr der Befreiung, das in einem langen Rhythmus von 50 Jahren stattfinden soll, gibt den Menschen die Möglichkeit sich zu lösen, die Leiden der vergangenen 50 Jahre hinter sich zu lassen, und einen neuen Weg Richtung Befreiung zu finden. Yovel soll sicherstellen, dass grobe Ungleichgewichte bei der Verteilung der Ressourcen weder die Struktur der Gesellschaft noch das Wohl der Natur gefährden. Es geht hier um ein generationenübergreifendes Denken und um ein Bewusstsein für die Beziehung zwischen Mensch (adam) und Erde (adamah).

Stella Hambergs Skulpturen sind zeitlos, da sie mit viel Kenntnis, Fähigkeit und Kraft in Materialien wie Bronze oder Gips, menschliche, tierische und pflanzenähnliche Figuren erschafft, Chimären oder Organismen die unterschiedliche Genotypen verbinden, Formen zwischen Wachstum und Bewegung, (z. B. zwischen wachsenden Blüten und blättern und sich vorantreibenden Flossen). Ihre zeitlose Qualität beruht aber auch auf der Energie, die sich zwischen dem festen Grund unter dem Gebäude des Ausstellungsraums und dem Umraum der Figuren im Ausstellungsraum entwickelt und verschiebt.

Die Arbeiten stehen im Dialog mit den kosmischen und  nicht-linearen Dimensionen, die wir noch nicht vollständig erfassen. Die Figuren schaffen einen mysteriösen, rätselhaften Umraum der vibriert und unsere eigenen beweglichen Schattenbilder beginnen in der selben Frequenz zu schwingen.

Diese rein materiellen Figuren und Objekte sind keine magischen Symbole, aber sie sind in der Tat magische Zauberstäbe. Sie stellen kein Geheimnis oder Mysterium dar, aber sie erwecken das Geheimnisvolle, Unerklärliche und Uralte in uns – den spirituellen Treibstoff, der die menschliche Maschine immer in Bewegung hält, die Elemente, die den menschlichen Geist in nicht-linearer Zeit in jedem Teilchen, in jedem von uns, erhält.

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Stella Hambergs Skulpturen führen mich erneut auf meine Reisen zu den archäologischen Museen, die ich im vergangenen Jahr besucht habe: Das Ägyptische Museum in Kairo, das Akropolis Museum in Athen, das Heraklion Museum auf Kreta, das Archäologische Museum in Palermo. Es ist in sofern ein Neubesuch, da Stella Hambergs Arbeiten mit der Energie der alten Epochen hoch aufgeladen sind. Es ist fast so, als seien alle menschlichen Ängste, Abscheulichkeiten, Trauer, Furcht, Begierde und Liebe destilliert und mit den Materialien ihrer Skulpturen vermischt worden.

Es geht vielleicht ein bisschen zu weit, das Werk einer Gegenwartskünstlerin mit den Jahrhunderte alten Darstellungstraditionen menschlicher, tierischer Darstellung oder der Darstellung der von den Menschen verehrten Natur in eine Reihe zu stellen, aber genau darum geht es:

Um ihre Fähigkeit eine Linie zu ziehen, vom Nachdenken über die Darstellung körperlicher Figuren zu der tatsächlichen Darstellung und Formgebung, heute, am Ende der Zivilisation wie wir sie kennen und in Beziehung auf die Darstellung des Körpers früherer Epochen. 

Manch einer mag anführen, dass der menschliche Körper sich seit Jahrtausenden nicht verändert hat und wir die gleichen sind, die wir immer waren, aber mich erinnert Stella Hambergs Kunst daran, den Blick zu schärfen und nicht allzu leicht auf diese Devise hereinzufallen! Unser Körper und unsere Wahrnehmung dessen, hat sich tatsächlich seit der Zeit, in der ägyptische Mumien für das Jenseits in Stoff eingewickelt und mit tierischen Fett eingestrichen wurden, grundlegend verändert. Heute sind wir alle Cyborgs. Fast alle haben wir künstliche Teile in unserem Körper, Füllungen in unseren Zähnen und Metallschrauben in unseren Füßen, die noch in unseren Gräbern liegen werden, wenn alles organische Material längst verrottet ist. Wir sind Cyborgs, die versuchen, ihre Menschlichkeit in einer Körperkapsel zu finden, zu erhalten und zu pflegen, die wir sind und die uns dennoch fremd bleibt und die uns vielleicht auch nicht mehr gänzlich gehört.

Die Futuristen benutzten den Begriff der physischen Transzendenz, der ihren Glauben daran beschreibt, dass materielle Objekte eine Form von eigener Persönlichkeit und Lebendigkeit besitzen, die sich in Kraftlinien offenbart und die innere, wesentliche und absolute Natur menschlicher Empfindung zeigt.

Stella Hamberg arbeitet in diesem Geist und die Arbeiten ihrer Ausstellung „Jubiläum“ sind Beleg ihrer Einsichten und ihrer Fähigkeit, ihre Skulpturen mit Fragen über uns selbst, mit unseren wahren Anliegen und Begierden und mit der Reise der Menschheit, Vergangenheit – Gegenwart - Zukunft, aufzuladen. Unser Hilfsmittel auf dieser Reise ist der Körper, aber unser Bewusstsein von und in diesem Körper entwickelt sich einzig über ästhetisches Training. Den Fokus von der geistigen Annahme zur physischen Betrachtung eines beeindruckenden dreidimensionalen Objekts zu bewegen.

Birta Gudjonsdottir

Birta Gudjonsdottir (* 1977) ist Künstlerin und Kuratorin und lebt und arbeitet in Reykjavik und Berlin. 2011 nahm sie am Curatorial Intensive program des ICI; Independent Curators International, New York teil. Von 2014 bis 2018 war sie Chief Curator am National Art Museum of Iceland, Reykjavik. Zuletzt war sie die Kuratorin des Isländischen Pavilions auf der Venedig Biennale 2019.

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