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Nicola Samorì
La Bocca Di Berlino
2. Mai - 7. Juni 2025

Eröffnung: Freitag, 2. Mai, 18 - 21 Uhr

Faltblatt zur Ausstellung

Im Mittelpunkt der Arbeit von Nicola Samorì steht die Idee, dass der Kunstgenuss am stärksten durch den Schock grausamer und unter die Haut gehender Darstellungen entfacht werden kann – ein Aspekt der menschlichen Natur, mit dem sich die Kunsttheorie seit der Antike intensiv beschäftigt hat. Mit seiner akribischen malerischen Durcharbeitung der Epidermis barocker Bilder verschafft sich Nicola Samorì eine sinnlich dichte Folie für seine künstlerische Erforschung der emotionalen und ästhetischen Tiefen dieses verstörenden Themas. Gleichsam als Ouvertüre eines Schauspiels des fleischlichen Leids figuriert die tragische Figur des mythischen Marsyas, der, mit Pans Bocksbeinen ausgestattet, mit im Schrei weit aufgerissenem Mund die Tortur seiner Häutung kopfüber erleidet. Die Geschichte seiner kühnen Herausforderung Apollons, des Anführers der Musen, zu einem Wettkampf ist eine Parabel auf die menschliche Hybris, sich durch Können der Kunst zu bemächtigen. Marsyas' Schändung ist zugleich eine Kastigation des dionysischen Prinzips, das im ekstatisch Sinnlichen das Geistige zu entfesseln vermag.
Sein uns präsentierter nackter Körper gleicht einem zu Fall gekommenen Laokoon, der antiken Pathosfigur des physischen Schmerzes par excellence. Im Gemälde sehen wir, wie das von der Haut freigelegte phallische Knie, Scharnierstelle seiner Zwitternatur, sich blutrot effektvoll vom Dunkel abhebt, und können aus seinem aufgerissenen Mund den Aufschrei, wie ihn Ovid wiedergibt (»Warum entreißt du mich mir selbst?«), gleichsam heraushören. Mit der vom Vorbild Jusepe de Riberas abweichenden Auslassung des mit Marsyas' Frage adressierten, den Oberschenkel des Satyrs vivisezierenden und mit seiner Hand in sein Fleisch eindringenden Gottes Apollon hat Nicola Samorì den Akt der Schändung selbst und damit die moralische Lektion ausgeklammert, um ihn stattdessen in der Malerei zu exerzieren.
Apollons aufgewirbelter und in sich verdrehter Umhang, dessen rosarote Farbe sich nach unten hin verdunkelt, um den Inkarnatton des gequälten Körpers aufzunehmen, ist nun freigesetzt und entfaltet eine eigenständige Dynamik; die der Darstellung entzogene körperliche Gewalt des Gottes ist in eine sie sublimierende, sie sänftigende Pathosform überführt. Über dem nackten Körper schwebend und dessen Umriss aufnehmend, stellt der spektakuläre Fall des erhabenen Umhangs die Bedeckung des Marsyas in Aussicht - und damit seinen Tod. Mit angstgeweiteten Augen, uns im Blick, offeriert Marsyas mit der Darbietung seines offenen Rachens auf vorderster Ebene, betrachtend in seinen Körper einzudringen, um dessen Tortur in der offenliegenden vulnerablen Fleischlichkeit zu erfahren.

In Samorìs Installation fungiert das Bild des Marsyas als Eingangsfigur, die uns im Sinne des pro fanum, „vor dem heiligen Sektor“, in eine dahinterliegende cella führt, in welcher Marsyas' tierischer Schmerzensschrei plastisch verwandelt ist in eine sich nach hinten überschlagene Sphinx. Zum zentralen Kultbild erhoben, erinnert ihre gewundene und in der Schwebe hängende Position an ihren Todessturz als Reaktion auf Ödipus‘ Lösung ihres Rätsels mit dem Wort „Mensch“. Von menschlicher Fleischlichkeit ist auch sie offensichtlich befallen; die Rotfärbung des Collemandina - Marmors ruft auch an ihrem Körper die Vorstellung der Enthäutung auf, während ihre extreme Körperwindung und Krümmung im wahrsten Sinne des Wortes tortura anzeigen.Eine Doppelreihe bemalter Steinplatten, welche an den Wänden entlang die zentrale Szene umschließen, umstellt wie ein antiker Chor den isolierten Hauptschauplatz des Leids, zu dem sie sichtbar auf Distanz gehen, um auf ihn facettenreich zu antworten: Sie bieten ein Spektrum an Andachtsbildern, mit Christus als Schmerzensmann (im Sinne des Ecce Homo: "Siehe, der Mensch!") umgeben von verschiedenen Bildnissen tiefes Mitleid ausdrückender Klagefiguren. Daneben finden sich visuell zensierte nackte Unterleiber und durch den Eingriff der künstlichen Intelligenz zu diesem Zweck gewaltsam verdrehte Kunstkörper, aber auch Blumenstilleben, deren Blüten aus dem freigelegten nackten Stein gebildet sind. Das Mitleid, welches sich in Tränen- und Blutbahnen materialisiert, die den Stein auszuhöhlen scheinen, oder sich in Spalten auftut, welche vor das Gesicht gehaltene, die Tränen auffangende Taschentücher der Klageweiber vorstellen, wird kontrastiert mit Bildern, die das Verhältnis von Figur und Grund auf verwickelte Weise umkehren, und solchen, welche die Sichtbarkeit des Geschlechts verhüllen und dabei die Lust vom Sehen auf die Vorstellung des Tastens verschieben.
Dieser irritierende Bildkontrast entspricht der Spaltung der erzieherischen Motivation in der kathartischen Ästhetik der Grausamkeit, die seit der Antike stets zwischen Abhärtung und Sensibilisierung hin und her schwankte. Während also die Sphinx, im Schmerz isoliert, den Affekt der Schrecken auslösenden perturbatio freisetzt, antwortet der Chor mit sozial gesteuerter depotenzierender Affektregulierung: In den Mienen der für andere Mit - Leidenden (Christus eingeschlossen) spiegelt sich der tragische Affekt der passio/compassio, während die zensierten Unterleiber Lustverzicht oder Lustverschiebung thematisieren und die Stillleben wiederum die Apathie des Schönen demonstrieren.

Die steinernen Bildfelder fungieren nach Samorì wie Zähne, welche die Sphinx, die Marsyas' Zunge transfiguriert, wehrhaft umstellen. Doppelreihig angeordnet und damit die Geschlossenheit des Mundes darstellend, besteht ihre Abwehr in der Fesselung des in sie eindringenden Blicks, denn jeder der Steine hält einen Moment des Zaubers bereit, der das Begehren zu sehen verschiebt: von der imaginierten Figur auf den materiellen Grund als eigentliche Basis der Leibhaftigkeit des Bildes. Aus nächster Nähe besehen, kehrt sich das kausale Verhältnis des den Stein scheinbar zersetzenden Tränenstroms um: Risse und Spalten im Stein bedingen die darstellerische Materialisierung eines Innenlebens, das sich als Klaff in der Repräsentation in die physische Struktur des Steines quasi eingenistet hat, um von da aus die affektive Belebung des Bildnisses motivisch zu bestimmen.
Bei einigen der Steinplatten hat Nicola Samori gänzlich auf Übermalung verzichtet, um die reine Potenzialität des Materials herauszustellen; diese leeren Bildfelder präsentieren sich am unmissverständlichsten als Zähne, die jedoch von Zersetzung befallen sind. Dunkle Flecken suggerieren geisterhafte, in den Stein zurückgezogene und damit verschwindende Erscheinungen von Gesichtern; in zwei Teile zerbrochene Steinplatten figurieren als Rahmen von Umrissen, welche Abwesenheit in die Bildreihe mit einschließen.
Leonardo da Vinci empfahl bekanntlich das wolkige Erscheinungsbild fleckiger Steine als Projektionsfläche für die Imagination von Landschaften und figürlichen Szenen, eine Empfehlung, die schließlich in den folgenden Jahrhunderten in Malerei auf Stein praktisch umgesetzt wurde. Und auch wenn Nicola Samorì mit der Wahl fleckiger Steinplatten als Bildgrund auf diese Tradition explizit Bezug nimmt, können wir in den offenen Stellen des Steins keine Bilder imaginieren, nichts projizieren, denn diese Flecken sind Blindstellen, ja offene Wunden in der Repräsentation. Doch indem sie in den natürlichen, da von der mineralischen Zusammensetzung erzeugten Bruchstellendas innere "Fleisch" des Steins nach außen kehren, wecken sie im Betrachter den Sinneseindruck des Taktilen, dessen Realisierung eine Intimität mit dem Blick des Künstlers herstellt. Auch wenn diese Felder von der Hand des Künstlers unbearbeitet und damit unberührt sind, ziehen sie uns in eine rein sensuelle Erfahrung hinein, die nicht nur am Anfang des Werkes stand, sondern dessen künstlerischen Entstehungsprozess auch von Grund auf bestimmt hat. Nicola Samorì verzichtet generell auf die freie Erfindung von eigenen Figuren, um vielmehr die Manipulation des zugrunde gelegten Bildmaterials kraft der bildnerischen Prozesse von Bildhauerei und Malerei als eigentliche Bildhandlung sinnlich erfahrbar zu machen.

Indem er den Blick gleichsam auf Grund gehen lässt, bändigt Samorì die menschliche Faszination an Bildern, die unter die Haut gehen. Denn durch die Erhebung der Verletzungen des Bildträgers zum generativen Nukleus seiner Bildmotive eröffnet er dem Betrachter die assoziative Möglichkeit, in die ruinösen Passagen des Steines sein eigenes Bewusstsein um die menschliche Verletzlichkeit einzutragen. Das Verhältnis von Grund und Figur kehrt sich um. In dem Moment, in welchem der Stein derart erfahren und auf gewisse Weise metaphorisch belebt wird, löst sich der versteinernde Effekt des äußeren Schocks und entfaltet sich die Schönheit des Werks im Innersten der visuellen Vorstellung des Leids.

Nicola Suthor
Professorin der Kunstgeschichte, Yale University

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