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Neo Rauch
Handlauf
Galerie EIGEN + ART Leipzig
26. September - 28. November 2020
verlängert bis 12. Dezember 2020

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Die Figuren hören mit
Ralph Keuning

Neo Rauch, der in Leipzig geborene Künstler, der an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig (HGB) bei Arno Rink studierte, hat die Kunst geprägt. In den 1990er-Jahren gelang es ihm mit seinen figurativen Gemälden, dass ihm die internationale Kunstwelt zu Füßen lag. Dabei standen seine Bilder damals entschieden außerhalb des Kanons der zeitgenössischen Kunst.
Seine Vorliebe für Comicstrips, das Ungreifbare seiner Erzählstränge – es war die Rede vom ›Rätsel Rauch‹. Tatsache ist: Neo Rauch ist ein prominenter Wegbereiter der großartigen Rückkehr des Figurativen in die bildende Kunst. Mit ihm und durch ihn errang Leipzig einen internationalen Ruf als Stadt der Maler.
Es scheint sich um einen Fluch der figurativen Darstellung zu handeln, der Neo Rauchs Werk ebenso trifft: Seine Gemälde eignen sich ausgesprochen gut für eine gesellschaftlich orientierte Interpretation. Auch ich habe im Rahmen seiner Ausstellung im Museum de Fundatie in Zwolle 2018 über sein Gemälde ››Gewitterfront‹‹ (2016) fantasiert und geschrieben, es könne Europa zwischen Stürzen und Aufstehen, zwischen Erfolg und Misserfolg versinnbildlichen.
Neo Rauch widerlegt diese Art von ›Hineinlesen‹ mit ruhiger Entschiedenheit als etwas, das sich nur im Kopf des Betrachters abspielt. Seine Kunst ist nicht politisch, niemals. Die sich aufdrängenden Assoziationen gehen ganz auf Rechnung des Betrachters. Eine Quelle des Künstlers sind sie nicht. Der Kern von Neo Rauchs Kunst besteht in seiner Welt, in seinen Träumen und Visionen...
Die Gemälde sind wie Wesen, die vom Maler zum Leben mit eigenem Herzschlag und dem Bedürfnis nach einem eigenen Biotop erweckt wurden. Wenn sie das sichere Atelier des Künstlers verlassen, sollte für sie ein Ort gefunden werden – die Wohnung eines Sammlers oder ein Museum –, an dem sie gedeihen, an dem sie für diejenigen, mit denen sie unter einem Dach leben, die Rolle des Gefährten erfüllen. Sie sollten mit Umsicht behandelt werden.
Handlauf_2Diese Notwendigkeit wird manchmal unterschätzt. Vielleicht liegt das an der Faszination für das 18. und 19. Jahrhundert, die in Rauchs Werk durchscheint: Jene Empfindung des Zeitreisenden, der seinen Lieblingsort in der Menschheitsgeschichte gefunden hat und der seinen Geist nun gerade auf jenen Bereich projiziert. Die schwere Arbeit auf seinem Acker sowie auf den Äckern seines Vaters und seiner Vorfahren bringt ein filigranes Konstrukt aus Bildern hervor, das an die Empfindsamkeit und Offenheit des Betrachters appelliert. Denn nur so kann dieser damit in Verbindung treten: Vorurteile, ›Framing‹, um dieses Modewort doch einmal zu benutzen, sind unangebracht und für den Betrachter sogar vollends unproduktiv. Seien Sie versichert, auch ohne einen einzigen Blick von uns vermögen die Gemälde Neo Rauchs der Ewigkeit zu trotzen, und sie werden uns alle überleben. Gerade in der Annäherung an diese Bilder können wir vielleicht eines Bruchteils der Ewigkeit teilhaftig werden.
Welche Bedeutung für uns Kunstbetrachter die Ewigkeit hat, lässt sich an der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts vielleicht am besten erkennen. Die reich gewordenen Händler waren Großauftraggeber einer unglaublich begabten Malergeneration, die sich darauf verlegte, sie meisterhaft zu porträtieren. In jener unbefangen optimistischen Zeit durften die Werke eitle, vor Testosteron strotzende Gemälde sein. Sehen Sie sich etwa die ››Nachtwache‹‹ (1642) an: Starke Männer sind es, die mit breit zur Schau gestelltem und tief empfundenem Optimismus ihre Unabhängigkeit und ihren Reichtum feiern. Was Bildaufbau und Balance des Gemäldes angeht, erkenne ich viel Übereinstimmung im Ansatz bei Rembrandt und Neo Rauch, die beide eine Anzahl Menschen so treffsicher auf der Bildfläche positionieren, dass es scheint, als würden diese das Welttheater repräsentieren.
Darin liegt die größte Übereinstimmung der beiden Künstler und ebenso die Manifestation dessen, was große Malerei für uns alle bedeutet. Es gibt auch einen Unterschied: Rembrandt malte den Amsterdamer Bürgermeister Frans Banninck Cocq im Rahmen seines Amtes als den ersten Bürger der mächtigsten Stadt der Welt. Maler und Bürgervater ritten hoch auf den Wellen des Erfolgs in einer Welt, die auf jeden Fall aus ihrer Sicht sehr überschaubar schien. Das Gemälde stellte eine Verankerung dieser Wahrnehmung dar. Die Dargestellten mögen sich damals nicht sehr intensiv mit der eigenen Sterblichkeit auseinandergesetzt haben, doch muss ihnen die Vorstellung, diese durch die ››Nachtwache‹‹ möglicherweise überwinden zu können, bewusst gewesen sein.
Die scheinbare Eindeutigkeit der ››Nachtwache‹‹ bildet einen scharfen Kontrast zur Komplexität des heutigen Lebens und der jüngsten Geschichte. Vielleicht liegt darin eine Erklärung für Neo Rauchs Hang zur Schönheit und Menschlichkeit der Aufklärung und Romantik. Im Chaos der Kriege und Ideologien unseres 20.-21. Jahrhunderts, in das wir nach Martin Heidegger hineingeworfen sind, gibt es nach eben diesem Philosophen nur eine einzige Erlösung, nämlich die Akzeptanz unserer Sterblichkeit. Hoffnung schimmert im Welttheater Neo Rauchs mit seiner ganzen antichronologischen Vielschichtigkeit. Seine lesbare, unauflösliche Komplexität bildet ein Fenster in die Unendlichkeit, sie ist wie ein biomorpher Handlauf, der uns zu dem geleitet, was uns am Ende unserer Reise in die Zukunft erwartet.

Auszug aus dem Text ››Die Figuren hören mit‹‹ von Ralph Keuning, Direktor Museum de Fundatie, Zwolle, NL, aus dem Katalog: ››Neo Rauch HANDLAUF Neues und Nachgereichtes‹‹, hg. von Doris Apell-Kölmel, E. A. Seemann Verlag, Leipzig 2020.
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