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Maja Behrmann
Findling
Galerie EIGEN + ART Leipzig
28. Oktober – 16. Dezember 2023

Maja Behrmann , Findling, Galerie EIGEN + ART Leipzig, October 28 - December 16, 2023
Camera + Editing: Paul Ott
Music: Purple



Majascapes

Zaia Alexander

Wenn ich Maja Behrmanns umfangreiches Werk betrachte, komme ich nicht umhin, über den Kontext nachzudenken, in dem ihre erste Einzelausstellung in der Galerie EIGEN + ART in Leipzig aufgenommen wird — den Dominoeffekt von Invasionen auf der ganzen Welt, der selbstmörderische Krieg, den wir Menschen unserem kranken, brennenden Planeten erklärt haben — die letzten beiden „weißen Nashörner“, das mysteriöse Verschwinden von Fledermäusen und Bienen, das tickende Aussterben vieler Arten, diese endlose Pandemie.

Zum Glück bleiben diese untröstlichen Worte nicht unwidersprochen:

Seht hin! Schaut euch um! Schaut nach oben!

Willkommen in der Welt von Maja Behrmann:

Sie werden sie nicht so schnell wieder verlassen wollen.

Betrachten Sie zunächst die elektrisierend lebendigen Farben. Betrachten Sie die überschwängliche, lebensbejahende Kraft dieses wild wachsenden Werks, die phantasmagorischen Figuren, die über unseren Köpfen hängen, Bewohner eines fernen Reiches.

Ach, wie sie Gravitas und Schwerkraft trotzen!

Ich hatte diesen Monat die Gelegenheit, Maja Behrmann in ihrem Atelier zu besuchen, das sie scherzhaft als ihren Generator bezeichnet. Hier arbeitet sie und bewahrt ihr umfangreiches „Archiv der Umrisse“ auf, aus dem sie ihre Inspiration schöpft. Kritiker haben die verblüffende Virtuosität ihrer zwei- und dreidimensionalen Strukturen aus Holz, gestricktem Stoff, Collagen und vielen anderen Materialien bewundert, die scheinbar keine Funktion in der „realen Welt“ haben. (Man beachte das Wort „scheinbar“.) Diese Objekte kommunizieren durch Farbe und Form, und eine tiefere Bedeutungsebene ist in ihnen verschlüsselt, ein verborgener Dialog, der sich aus der Natur des Ausgangsmaterials ergibt: Gebilde und Muster, die Sammlungen von Museen, Kultureinrichtungen, Bibliotheken, Galerien und Gegenständen des täglichen Lebens entstammen. Ein unerhörter Dialog, der sich zwischen unterschiedlichsten Formen und Farben abspielt, ein Destillat, das die verschiedensten Kontinente, Epochen, Kulturen und Völker überspannt. Wir können eine Menge von ihnen lernen.

Jedes Werk beginnt Behrmann mit einer Outline, die in verschiedenen Konstellationen wiederholt wird, ähnlich einer Komponistin, die von einer Reihe von Noten fasziniert ist und sie in Variationen von Variationen übersetzt. Als Schriftstellerin kenne ich das Bedürfnis, Wörter, Gedanken, Erinnerungen, Figuren und Handlungen zu recyceln, verstehe, was es heißt, Formen und Muster rhythmisch zu wiederholen. Wörter, die wir oft verwenden, weisen auch auf unsere Vorstellung hin, dass unser Schreiben — wie unser Leben — die Summe unserer Obsessionen ist. Behrmann vergleicht ihre Variationen mit einer Wasserfontäne, die das Wasser, das sie aussprüht, recycelt, mit funkelnden Wasserstrahlen, die unendliche Muster in die Muster spritzen. So wie keine Schneeflocke der anderen gleicht, spiegeln diese Variationen die wahre Komplexität der Natur wider. Die Art und Weise, wie jede der aufeinanderfolgenden Variationen aus der vorangegangenen erwächst, ist zutiefst logisch, bis hin zu jenem Punkt, an dem es als Zwangsläufigkeit erscheint.

Während meines Besuchs sprachen wir über Literatur und darüber, was große Kunst ausmacht, und viele der Eindrücke aus unseren Gesprächen hallen noch nach. Wir sprachen beispielsweise über Paul Klees Gemälde Angelus Novus, das Walter Benjamin unbedingt erwerben wollte und das ihn zu seinem Essay „Thesen zur Philosophie der Geschichte“ inspirierte. Mich freute diese Entdeckung. Benjamins Essays, vor allem diejenigen zum Thema Übersetzung, waren eine wichtige Stütze meines Denkens. Doch wie verträgt sich Benjamins eher pessimistische, von Thanatos gesättigte Weltsicht mit dem Eros von Behrmanns idyllischer, stetig wachsender Technicolor-Welt?

„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt […] Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Fü.e schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten‚ wecken und dasZerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her [...] Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“

Behrmanns unermüdliche Kreativität, der ungestüme Wildwuchs an Objekten (den sie selbst ein wenig unheimlich findet), die Technicolor-satten Werke sind alles andere als naiv oder oberflächlich optimistisch; sie entspringen eben den Trümmern, von denen Benjamin spricht, sie sind ihrer zum Trotz entstanden.

Behrmann kanalisiert Bereiche, die über unseren unmittelbaren Erlebnishorizont hinausgehen, Dimensionen, die sich unserer unmittelbaren Erfahrung entziehen; mit den Wesen, die sie bevölkern, wissen wir nichts anzufangen. So unnütz sie zunächst auch scheinen (ist es eine Sphinx, ein Torso oder ein betrunkener Donald Duck?), wollen wir sie doch besitzen, wie Benjamin den Angelus Novus. Ihre magische Aura, ihre jenseitige Schönheit, ihre sinnliche Verkleidung verlangen danach, gestreichelt und getragen zu werden.

Was aber hat die Künstlerin im Blick, wenn sie über die Formen nachdenkt, die sie, um sie überhaupt zu sehen, erst konstruieren muss, die Augen vor der Welt geschlossen? Wie mag es sein, im Inneren dieser byzantinischen Fragmente von Unendlichkeit? Der Verstand schwankt beim Versuch, sich weit genug zu öffnen, um all die Fragmente einzulassen. Jedes Objekt müsse, erzählt Behrmann, zuerst gestaltet werden, um begreifbar zu sein. Der Prozess beruhe auf der beglückenden Entdeckung von ursprünglich nicht Gesuchtem und darauf, sich auf ein unbekanntes Ergebnis einzulassen. Trotz akribischer Vorbereitung übernehme letztendlich der Zufall. Die Künstlerin muss ein leeres Gefäß werden, damit sich etwas Unerwartetes ereignen kann. Und sie muss Vertrauen haben, denn jedes Objekt durchläuft eine Reihe von Verwandlungen, wozu auch die Zusammenarbeit mit einem Drechsler aus Dresden und einer Strickerei gehört. Das Fragezeichen ist für die Arbeit wesentlich, die Fähigkeit, sich überraschen zu lassen. Diese Qualität des glücklichen Zufalls versorgt die Objekte mit Sauerstoff und Energie und lässt sie magisch werden.

Und so wie sich diese Objekte einem Nutzen verweigern, verweigern sie sich auch der Definition. Nur aus alter Gewohnheit betrachten wir sie wie einen Rohrschach-Fleck im Versuch, ihnen eine Bedeutung zu verleihen. Doch diese fließenden und wilden Majascapes entgleiten uns. In der Sammlung ihrer Arbeiten für die Galerie EIGEN + ART ist nicht einmal mehr auf die Schwerkraft Verlass. Die Objekte schweben im Raum, als wollten sie uns daran erinnern, dass sie nicht ganz unserer räumlichen Realität angehören. Trotz ihrer Ungreifbarkeit sind sie nicht hermetisch. Auf einer sehr grundlegenden Ebene spüren wir, dass sie etwas mit uns zu tun haben. Ähnlich wie der Stamm eines Baumes, den wir berühren und der uns berührt, den wir anschauen und der zu uns zurückschaut, interagieren diese Objekte miteinander und mit uns. Weder sind sie völlig leblos, noch dazu bestimmt, sich zu regen.

Das Werk lädt dazu ein, über die Verbindung zwischen verschiedenen Daseinsformen nachzudenken und mit dem, was uns fremd ist, einen Dialog zu führen, zu einer Zeit, in der sich das Gespräch so oft auf Unterschiede und Trennendes konzentriert.

Ein Reichtum an Möglichkeiten scheint auf.

Paradoxerweise entstehen diese unendlichen Variationen auf ein Thema gerade aufgrund der natürlichen Grenzen des Materials und der Herstellung. Diese Beschränkungen sind im Grunde der Anker und der Schlüssel zur Kreativität. Die Beschaffenheit des Holzes, das sich um seine Achse dreht oder des Gewebes aus vier Fäden. Wenn das Holzstück ausschließlich symmetrisch sein kann, schneidet es Behrmann in zwei Hälften, streicht es an, arbeitet die

Späne ein, die auf dem Arbeitstisch geblieben sind. Hat das Gewebe vier Farben, gewinnt sie acht, indem sie ein Stück Stoff mit einem anderen verbindet.

Maja Behrmanns skurrile Figuren stellen eine radikale Auflehnung gegen die Welt in ihrem aktuellen Katastrophenzustand dar, gegen die Anhäufung von Katastrophen, die der Engel der Geschichte bezeugt. Dieser Trotz gegen das scheinbar Unvermeidliche, dieses Aufleuchten des Lebendigen angesichts unserer gegenwärtigen Krisen macht sie so profund. Sie markieren einen zukünftigen Anfang und zwar auf subtile Weise; es gibt keine Manifeste, keine großen Worte. Deutlich wird vielmehr Behrmanns Art, zu denken, zu leben und die Welt zu sehen: eine Welt, die in ihrem farbenreichen Überschwang eben jenen Kontrapunkt darstellt, den wir so dringend brauchen.

Übersetzung von Antje Rávik Strubel

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