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Raul Walch
unfollow
7. Januar - 6. Februar 2021
Galerie EIGEN + ART Berlin

Die Banner von Raul Walch wirken gegen den Himmel befremdlich. Worauf erhebt der Künstler Anspruch, wenn er seine staatenlose Fahne vor verlassenen Landschaften wehen lässt? Allein schon die Frage geht am Wesentlichen vorbei. Durch das Weglassen von Emblemen oder Insignien untergräbt der Künstler die Macht von Botschaften im öffentlichen Raum, von Nationalflaggen ebenso wie von Protesttransparenten. Stattdessen macht er auf den umgebenden Rahmen aufmerksam, auf die Weite jenseits des flatternden Stoffes. Die weitwinklige Welt wird zum Punktum.
Der Künstler und Aktivist ist bekannt für seine Praxis des Umherstreifens, die häufig in Form von luftgetragenen, wogenden geometrischen Arbeiten aus Stoff daherkommt. Auf der ganzen Welt fügt Walch diese erhabenen Abstraktionen in Stadtlandschaften ein oder setzt sie Naturphänomenen entgegen. Manchmal fassen die Werke an diesen Orten Fuß, manchmal treiben sie nur flüchtig vorbei wie Durchreisende. In beiden Fällen ergibt sich aus dem Akt des Schauens durch genaueres Studium der mitteilsamen Muster seiner Stoffmalerei oder durch das Beobachten der Choreografie seiner hoch aufragenden Mobiles eine Meditation oder Entspannung – weil seine Werke nicht versuchen, die weiten, marginalen Räume zu erklären, in denen sie sich befinden – sie fordern den Betrachter einfach auf poetische Weise auf, sie zu betrachten.
Für diese Schau jüngerer Arbeiten in der Ausstellung „Unfollow" greift Walch Elemente von seinen letzten Europareisen in verschiedenen Werken auf, die gemeinsam in etwas hängen, das der Künstler Multiversum nennt. Wie der Titel bereits andeutet, ist die Ausstellung durchweg von scheinbaren Imperativen durchsetzt, wobei sich die Sprache mit leuchtenden Farben in ansonsten abstrakte Werke einfügt. Siebdruckarbeiten auf Papier rufen „steal this flag" oder „leave it underground", aber am Ende sind sie rein poetisch. Es gibt keine offensichtliche Reaktion, die dem Betrachter über das kontemplative Bewusstsein hinausgehend entlockt werden soll. Die utopischen, postnationalen oder klimagetriebenen Träume erhalten dadurch, dass sie gedruckt werden, in diesem Gedankenraum einen Ort der Beständigkeit.
Vieles in Walchs Arbeit wird einer Natur oder Urbanität gegenübergestellt, die sich in einer kritischen Übergangsphase befindet. Wie es bei den meisten von Walch verwendeten Materialien der Fall ist, wurden die einzelnen Bestandteile der Werke neuen Zwecken zugeführt – außerhalb des Ausstellungsraums hat jedes Objekt zuvor gewissermaßen freie Luft geatmet. Im Grunde genommen zieht die Ausstellung eine Linie zwischen zwei Umweltpolen: einer Kohlengrube auf Meereshöhe in der Lausitz und den Gletschern Südtirols weiter südlich und 3.800 Meter höher. In der kurzen Filmschleife No One to Follow kartiert der Künstler seinen Weg durch diese beiden völlig unterschiedlichen Räume – einen Ort „vollkommener" Natur und einen Ort der Rohstoffausbeutung und offensichtlichen Zerstörung. Während der Gletscher ein perfektes Beispiel natürlicher Schönheit zu liefern scheint, strahlt die Sonne auf ihn herab. Um ihn vor dem Abschmelzen zu schützen, wurde ein dickes Vliesstoff kilometerweit über das Eis ausgebreitet. Das Nebeneinander eines unnatürlichen Erhaltungszustands einerseits und geschäftiger Zerstörung anderseits zeigt auf, dass jede Ideenbildung über das Natürliche und das Unnatürliche paradox ist. Stets befindet sich die Natur in einem Zustand menschengemachter Entropie; Rentabilität ist das verbindende Element.

In No One to Follow kommen die Textilien vor, die sich in der Galerie physisch als NonWoven Semaphores wiederfinden – eine Reihe von Stoffbildern, die die Wände bedecken. Dieses Industriegewebe, das normalerweise um Schneehügel und Eisplatten gewickelt ist, wird in mehrfachen Iterationen auf vollkommen unnatürliche weiße Wände drapiert. Walch senkt diesen ungewohnten Stoff auf uns herab und weist seinen feinen Fasern durch Farben eine neue Aufgabe zu, macht ihn zu einem bunten Teppich und lässt ihn als abstrakte Landkarte wiedererstehen – das Gewebe wird zu einer Luftaufnahme von sich selbst. Walch bearbeitet jedes Feld mit Erdpigmenten aus dem Boden, beispielsweise Kohle und Ocker aus den Bergwerken Brandenburgs oder Teerfarbe.
Wichtig ist: Begriffe wie „hohe Kunst" haben bei „Unfollow" keinen Platz. Der Titel eines sich türmenden, sanft schwingenden Mobiles, das ebenfalls aus dem gleichen fremdartigen Gletschertextil hergestellt wurde und den Betrachter unter sich bedeckt, lautet The High, Low And In Between. Er spielt mit dieser Idee von Hoch und Niedrig im Sinne der Geografie, in Bezug auf physische Höhe und Tiefe – besonders, wenn es um Begriffe geht, die der Kultur einen Wert zumessen sollen. Unter dem schwingenden Mobile kommen Fragen auf: Was ist eigentlich hohe oder konzeptuelle Kunst und mithin bloßer Luxus – und dringen nicht auch irgendwo Politik und Graswurzeln an die Oberfläche? Was gehört in diesen weißen Ausstellungsraum, was auf die Straße? Irgendwann begibt sich der Betrachter wieder zurück nach draußen.

Kate Brown
Übersetzung: Frank Süßdorf

Raul Walch
unfollow
January 7 - February 6, 2021
Galerie EIGEN + ART Berlin

Filmed & Edited by Matthias Maercks



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