Ricarda Roggan
BODEN
Galerie EIGEN + ART Leipzig
13. Januar - 2. März 2024
Eröffnung: Samstag, 13. Januar, 11 – 19 Uhr
Film & Edit: TABLEAU Films (Matthias Maercks)
Deutsch mit englischem Untertitel
Ich stehe auf einer Wiese und schaue um mich; ich bin froh, dass es Allgemeinbegriffe gibt, denn ohne den Begriff Wiese könnte ich nicht sagen, was mich umgibt; ich sehe unzählige, vielfältige Halme, sodass die Erwartung, aus ihrer Summe eine Ordnung abzuleiten, sicherlich misslingt. Somit ist der Begriff Wiese eine uneindeutige Abstraktion, in deren Sicherheit ich mich zurückziehe.
Die Wiese wächst, sie wird gemäht, sie wächst weiter. Das Gemähte trocknet, zunächst im Freien, dann im Schober, in einer eigens errichteten Unterkunft. Es wird zu Heu. In seiner Unterkunft ist das Stroh geschützt vor Nässe, die sorgsame Lagerung konserviert die Wirkkräfte der Gräser, sie bewahren sich in neuer Gestalt, dienen Tieren zur Nahrung oder zur Ausstattung ihrer Räume. Doch schaue ich auf Heu, befällt mich eine ähnliche Hilflosigkeit wie auf der Wiese. Es mag ein angenehmes Empfinden sein, sich „auf Stroh zu betten“, doch sobald ich in eine Masse von Stroh hineinsehe, wird mir schwindlig. Es ist kein Anblick, der mich erfreut. Warum?
Die Boden-Bilder von Ricarda Roggan sind eingelassen in eine Dramaturgie. Sie versichern dem betrachtenden Blick zunächst die Gewähr einer Unterkunft: man sieht einen Ort, an dem etwas aufbewahrt wird, eine Scheune. Eine einfache, solide Konstruktion aus Holz und Mauern. Folgt man der vorgesehenen Reihung, dann führen die schwarz-weißen Bilder stetig nach oben. Auf dem Boden angekommen, beginnt das Leben des Heus. Es dehnt sich aus, wuchert von überall her, von oben, aus den Ecken. Hier ist offensichtlich sein Lebensraum. Und ich werde unsicher, ob mir der Blick auf das Uneindeutige dieser Materie gefällt.
Doch dann ist da ein erstes farbiges Bild, und zum ersten Mal ist auch ein tiefer Raum zu sehen, mit Seitenwänden und einer gegenüberliegenden Wand, in die eine Türöffnung eingelassen ist. Diese verweigert jedoch dem Blick das Weitersehen. Im Dunkeln lassen sich Dinge nur erahnen. Diese Räume sind entleert, nur vereinzelt liegt Stroh. Aber es bricht durch die Decke, eine Vorrichtung versucht, sich diesem Ungezähmten mit mechanischer Kraft entgegenzustemmen. Auf einem weiteren Bild ist der Boden blank, als ob der Raum nun einem anderen Zweck zu dienen hätte, als dem einer Vorratskammer. Vielleicht verbinden sich hier zum ersten Mal Bild und Raum. Es wird offensichtlich, dass ich mich von Anfang an in Bildräumen bewegte. Jetzt erinnere ich mich, dass das erste Bild auch eine ins Schwarze offene Tür zeigte, und plötzlich werde ich gewahr, dass ich durch diese Tür hineintreten musste, um das Innere in den anderen Bildern zu sehen. Die Fotografien zeigen mir das, was sich verbirgt. Oder sich nur in ihnen offenbart.
Die fotografischen Bilder fixieren diesen Ort. Einer Analyse gleich, demonstrieren sie zum einen den Ausgleich vom Leben der Natur mit dem Leben der von Menschen gezüchteten Tiere. In streng gefassten Aufnahmen, die mit der Geometrie der Räume und vor allem mit jener in der fotografischen Technik inkorporierten Geometrie korrespondieren, wirken sie wie eine systematische Bestandsaufnahme der Aufgabe dieses Ortes. Doch es kommt der Augenblick, wo der Blick kippt. Bereits bei dem Bild, auf dem ein Aufgang zu sehen ist, schlich sich die Unsicherheit ein, ob dieser nicht auch ein Abstieg sein könnte. Die vermeintliche Bewegung von unten nach oben wäre ebenso als eine von oben nach unten denkbar, sodass sich vor uns, wären wir unten angekommen, gleichfalls ein Boden erstreckte, einer jedoch, dem keine Funktion mehr zukommt. Bodenloser Grund.
Gerade die Farbbilder wirken, als ob sie einen anderen Ort oder vielleicht einen Un-Ort regelrecht erfänden, einen Ort jenseits der vertrauten Raumerfahrung. Das vorletzte Bild zeigt einen seinen Dimensionen entrückten Raum. Einem unterirdischen Gewölbe oder carcere gleich, ist der Boden ansteigend mit Stroh gefüllt. Das für die Aufnahme eingesetzte Licht drängt die Masse Stroh beinahe in eine expressionistische Körperlichkeit, der Raum will nicht betreten werden. Das letzte Bild wiederum ist inmitten des Strohs. Die das Bild ausfüllende Materie überwältigt die Betrachtenden, führt eine Verflachung des Raumes herbei, die der Gewalt einer Un-Ordnung zuarbeitet. Nun ist man woanders.
Und das Bild mit dem Auto? Eingepackt steht es gleichfalls in einem dimensionslosen Raum. Eigentümliches Artefakt einer vergangenen Zeit. Es hat keine Funktion mehr, genauso wenig wie das Stroh; Tiere gibt es keine mehr. Ein Leben danach.
Die Boden-Bilder Ricarda Roggans entführen in eine Ästhetik des Schwindels, aber es ist nicht der Schwindel zur Freiheit hin, wie ihn Kierkegaard erträumte, sondern jener, der die Bodenlosigkeit der Gegenwart wahrnimmt.
Marc Ries