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Titus Schade
ALTSTADT
Galerie EIGEN + ART Leipzig
2. November - 19. Dezember 2019
Aufstand der Häuser
Die Dorf- und Stadträume von Titus Schade sind kalt, unwirtlich, befremdend und auf unheimliche Weise stark elektrisierend. Fachwerkhäuser, lange Schornsteine, Plattenbauten, Mondlichter, Feuerstellen, Vogelhäuser, aufgeräumte Regale und Stürme sind die typischen Formvokabeln, mit denen die Bildwelten aufgebaut werden. Diese Welten zeichnen sich unverwechselbar durch die fast zwanghafte und autistische Schade-Ordnung aus; nicht die Geste, sondern seine dramaturgische Ordnungsregie steht für seine malerische Handschrift.
Das Dargestellte erinnert an experimentelle Theaterkulissen der Düsseldorfer Photoschule, an düstere Computerspiele für deutsche Fachwerkromantiker oder an neu-sachliche Industrie-Bauerngenres ohne Bauern. Kurz: Schade malt ‚Heimatthriller'.
Wie in einem guten Thriller, kommt auch der Betrachter von Schades Malereien trotz Entspannungsphasen, hier durch die bild-nächtliche Ruhe, ebenfalls nicht zu diesen. Er fühlt sich hin- und hergerissen, zwischen der vertrauten Architektur einer unspezifischen Heimat und den alptraumhaften Fachwerkmaschinen, deren Öfen für die apokalyptische Leere heizen. Heimat oder Thrill? Oder anders gefragt: Realität oder Versuchsanordnung? Architektur oder Modell?
Das Werk Der Hof des Modellbauers zeigt die Unlösbarkeit dieser Fragen. Zwei Häuser stehen hier nebeneinander. Ein Mehrfamilienhaus aus Platte und ein Einfamilienhaus mit Spitzdach. Der Modellbauer wohnt in letzterem, seine Hausmodelle stehen im Fenster. Der Treppenabstieg auf dem davorliegenden Platz gleicht einer U-Bahnstation ohne Schutzgeländer oder einem leeren Schwimmbecken. In der Bildwirklichkeit führt er jedoch zu seinem Hobbykeller, dem postmodernen Rückzugsort für Ehemänner. Dass hier Modell und Realität ineinander greifen, liest sich an den geordneten Requisiten auf dem Vorplatz ab, an den unwirklichen Maßstäben der Häuser (eigentlich müsste das Mehrfamilienhaus viel größer sein) und der Treppe zum Bastelkeller, die durch Größe und Tiefbau in Wahrheit industriellen Zwecken zu dienen scheint.
Nicht nur auf diesem Werk, sondern grundsätzlich typisch für Schades Welten, ist die Menschenleere. Und auch dieser Umstand trägt gewichtig zum Thrill bei.
Die Wirkung erklärt sich am ehesten mit Ernest Hemingways Eisbergmodell - der Kunst des Weglassens. Erzählt wird nur über die Spitze des Eisbergs, sein unter dem Wasser verstecktes, umso gewaltigeres Volumen wird bewusst nicht beschrieben. Gerade in Hemingways Kurzgeschichten setzt die Handlung ohne Vorgeschichte, ohne Biografie, ohne kreative Adjektive und ohne verschnörkelte Stimmung ein. Sie endet konsequenterweise ohne Ende. Und so wird die Phantasie über den verborgenen Teil des Eisbergs umso hitziger befeuert. Ähnliches wird durch Schades Malerei ausgelöst. Die erzählerische Vorgeschichte, die erklären könnte, was passiert sein müsste, damit es zu dieser Welt kam, wird nicht preisgegeben. Der Aufstand der Häuser ist bereits geschehen. Das Weglassen der Menschen, deren Existenz nur durch Werktitel, bestückte Fensterbretter, einzelne Graffitis oder lodernde Feuerstellen angedeutet wird, führt zwingend zur imaginären Bevölkerung, zur Vorstellung darüber, wie sich die Protagonisten verhalten, wie sie sich bewegen und ob sich ihr anatomischer Körperbau evolutionär den neuen Architekturgegebenheiten angepasst hat.
Neben der subjektiven Science-Fiction-Phantasie, lässt ebenfalls die konkrete Architektur im kulturgeschichtlichen Kontext auf mögliche Bildbewohner und Handlungen schließen:
Obwohl es keine eindeutigen Hinweise auf spezielle Orte und Regionen gibt, lassen sich die Bauwerke, wie die Fachwerkhäuser, der nordeuropäischen Geschichte zuordnen. Zunächst fallen die langen Schornsteine auf, die Max Kretzer in seinem Roman Meister Timpe (Berlin, 1888) als „Gigantenlunge eines unsichtbaren Ungeheuers"[i] bezeichnete. Sie tragen auch in Schades Architektur zu der unheimlichen Mischung aus Einfamilienhaus und Fabrik, aus fragmentierter Arbeitersiedlung und Fachwerkmaschine bei.
Kretzers Meister Timpe war ein Drechsler im Berliner Osten, vor dessen Haus eines Tages eine Fabrik gebaut wurde, die seine Existenz zerstörte. Bezeichnenderweise verübte der große Schornstein eine starke Wirkung auf Timpe, der Tage und vor allem Nächte lang Angst hatte, dass er auf ihn und sein Haus hinunter fallen und es zerschmettern könne. Der Roman portraitiert die urbane Industrialisierung, den Kampf der Handwerker und die Geburt der Proletarier, alles im Schatten des Schornsteins, der „Siegessäule der modernen Industrie"[ii].
Diese Siegessäule hatte ebenfalls die Entwicklung der Arbeitersiedlungen zur Folge, die im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden. Die Arbeiterwohnkolonie Gmindersdorf in Reutlingen zählte beispielsweise zu den Vorzeigeobjekten. Nach englischem Vorbild, wie Bournville bei Birmingham, ließ der Architekt Theodor Fischer für 894 Arbeiter Wohnhäuser mit dörflichen Elementen errichten, die jedoch geordneten, funktionalen Ideen unterlagen.[iii] Die Fachwerkhäuser, teils freistehend, mit ihren langen Schornsteinen und ihren Spitzdächern erinnern an Schades Siedlungen.
Trotzdem hat sich vieles verändert. Nach „form follows function" trat der Aufstand der Häuser.
Eine eigenmächtige Transformation fand statt, in der die Häuser Fabrikelemente und Betonanbauten verschlangen und als Folge disproportionale Mutationen aufweisen. So entstanden Windmühlenhäuser als gespenstig wackelige Siegesmonumente, spiegelglatte Eisenstädte, Neubauten, in denen sich Mehrfamilienhäuser in das Herz futuristischer Fabrikschalen einnisteten, Fachwerkhälften, die sich reuelos voneinander abtrennten und Kirchen in Gestalt von futuristischen Grabsteinhäusern. Utopie oder Dystopie der Arbeitersiedlung? Unklar bleibt, ob hier die Fabriken oder die Arbeiterhäuser gewonnen haben. Titus Schade malt diese Welt sachlich, frei von jeglicher Moral oder politischer Botschaft. Somit rückt er in die Nähe zur Düsseldorfer Photoschule und konkret zu der Siegerländer Fachwerk-Typologie (1958-1974) von Bernd und Hilla Becher. Obwohl Schade mit Farbe, Tiefenwirkung und Landschaft arbeitet, erfüllen seine Werkserien über die mutierte Architektur ebenfalls die Aspekte des Sammelns, der Aufreihung, der Ich-Distanz und der Ordnung. Gerade die Regalbilder, in denen die Häuser als Modelle nebeneinander stehen, referieren an die seriellen Abwicklungen bestimmter Anzahlen an Frontalfotografien der Becher Werkserien.
Aber auch die Maltechnik trägt zur Sachlichkeit bei. Ästhetisch an Computerspiele und Renderings angelehnt, steht die analoge Schade-Ordnung nicht nur für klare, kompositorische Setzungen, sondern auch für saubere Dachkanten und Fassadenkonturen, die mit einfachen Werkzeugen wie Klebestreifen hergestellt werden. Selten übermalt oder korrigiert er Partien, denn statt auf solchen „chaotischen" Schichten, geschieht die Malerei flächig auf der gleichen Ebene. Sorgsame Farbverläufe tragen zur Tiefe bei. In Ausnahmen, wie bei Stürmen und Wolkenformationen, schlägt die Gestik durch. Die Protagonisten, also die Häuser, entstammen meistens keinen spezifischen Vorbildern. Zwar zählt der Lindenauer Hafen in Leipzig mit seinen überproportional hoch wirkenden Speicherhäusern im Stil von kleineren Mehrfamilienheimen zu markanten Orten in Schades Umgebung, aber die meisten Hausformen entstehen im Kopf. Da Gesehenes sich in der Erinnerung gerne dramatisiert, schöpft Schade in seinem Atelier aus sich selbst. Durch jede neue Leinwand kommen neue und alte Protagonisten hinzu, entstehen neue Räume und Transformationen, als ob jedes Gemälde ein weiteres Stück einer immer größer werdenden Landkarte einnimmt. Hier stehen die Gebäudefiguren aufrecht, mit durchgestrecktem Rücken, - ganz im Zeichen des Aufstandes. So können die Schornsteine auch als geheime Antennen, die Vogelhäuser als Satelliten fungieren. Wer weiß es schon?
Die Ausweitung von Schades Landkarte ist jedenfalls noch nicht abgeschlossen.
Text von Larissa Kikol
[i]Max Kretzer, Meister Timpe. Sozialer Roman, Berlin 1888, S. 1
[ii]Ebd., S. 165
[iii]Vgl.Gabriele Howaldt: Die Arbeiterwohnkolonie Gmindersdorf in Reutlingen, in: Denkmalpflege in Baden-Württemberg, 3. Jg. 1973, Heft 3, S. 26–33.